2014 beim Wandern mit meinem Bruder

Brocken: 4 Stunden hoch, 4 Stunden runter. Neue Wanderschuhe. Fußnägel etwas länger nicht geschnitten. Wanderschuhe scheinbar zu groß. Schmerzen. Dazu kommt: Lange nicht mehr gewandert, auch sonst lange keiner Sportart nachgegangen. 26 Grad. Schwitzen.

Wir fuhren an diesem Samstag gegen 5 Uhr morgens los und kamen wie geplant um 7 Uhr am Brocken an. Wir hatten es bis nach oben geschafft und genossen eine kleine Brotzeit und dabei die Aussicht. Ich war oben schon total platt. Nach einer halben Stunde bergab, also insgesamt 4,5 Stunden, war ich so im A**** und der Schmerz so groß (Sonne, untrainiert, Fußnägel drückten ins Fleisch, da Schuhe zu groß waren und ich im Schuh nach vorne rutschte) dass ich meine Wanderschuhe auszog und barfuß über Schutt und Waldboden lief. Das war zwar auch nicht angenehm, aber in dem Moment nicht so schlimm, wie diese völlig unpassenden Schuhe.

Nach einer weiteren halben Stunde konnte ich nicht mehr. Ich war so am Ende, dass ich ernsthaft überlegte die Nacht in einer Schutzhütte (War eher ein Schutzdach als eine Hütte), welche sich in der Nähe befand zu verbringen. Ich sagte meinem Bruder ich könne nicht mehr. Ich meinte es ernst, ich konnte nicht mehr. Mein Bruder antwortete daraufhin nur: Beim Bund haben wir oft zu hören bekommen:

- Wenn man denkt, man kann nicht mehr, kann man meist noch ganz schön viel.

Das hätte er dann auch schnell als wahr empfunden, weil er beim Training oft in Zustände geriet, von denen er dachte es wäre seine physische oder psychische Grenze - aber wo er eine Mauer vermutete, befand sich oft noch kilometerweit freies Land….

Irgendwie gefielen mir diese Worte so gut, dass ich beschloss dem nachzugehen. 3,5 Stunden lang kämpfte ich mich also weiter nach unten, wischte mir Sturzbäche von Schweiß von der Stirn, jammerte und flehte… und dann waren wir am Auto.

Ich fiel an dem Abend ins Auto, verpennte die gesamte fahrt bis nach Hause, fiel dort angekommen aus dem Auto in mein Bett und war am nächsten Tag…. ungewöhnlich fit. Wenn man denkt, man kann nicht mehr, kann man meist noch ganz schön viel. Nämlich fast nochmal genau so viel und ich glaube heute fest daran, dass ich an dem Tag die gesamte Strecke noch einmal hätte gehen können.

Dies ist nur eine von vielen Erfahrungen und Erlebnissen, die mir beim Wandern wiederfahren sind. Von klein auf war ich mit meinen Eltern und meinen Brüdern im Sommer wandern. Fast ausschließlich in Österreich. Ich erinnere mich gerne an diese unbeschwerten Familienurlaube. Für mich ist wandern jedoch mittlerweile viel mehr, als nur sportliche Betätigung in Kombination mit tollen Aussichten und spannenden Tierbeobachtungen. Für mich findet jede Wanderung auf zwei Ebenen statt. Es gibt die innere Wanderung und die äußere Wanderung.

Die äußere Wanderung...

…ist alles was ich unterwegs spüre, sehe und erlebe. Morgens geht es früh los, es ist noch kalt, ich friere. Nach 15 Min. des Wanderns muss ich dann bereits die erste Kleidungsschicht ablegen, da ich anfange zu schwitzen. Ich lausche den Vögeln, ich sehe vielleicht ein Reh auf einer nebelverhangenen Wiese. Ich denke nicht darüber nach, ich genieße es einfach. Wenn ich bei Regen wandere, sehe ich unterwegs noch viel weniger Menschen und bin ganz mit mir allein. Das prasseln vom Regen ist für mich irgendwie schon immer beruhigend gewesen. Gerade bei Regen freue ich mich auf die Brotzeit. Ich suche mir eine geeignete Stelle und packe mein Bothy Bag aus. Was das ist? Im Grunde genommen ein wasserdichtes Zelt ohne Stangen und ohne Boden. Man wirft es einfach über sich und setzt sich so hin, dass man auf dem Rand der Plane sitzt. Man ist vor Wind und Wetter geschützt, schaut aus dem kleinen Fenster und genießt seinen Tee und sein Brot. Brot und Käse schneide ich natürlich mit meinem kleinen Taschenmesser, jeder sollte ein Taschenmesser besitzen – meine Meinung! Wenn man durchnässt und völlig geschafft vom Wandern ist und sich dann in sein kleines, signal-farbiges Schneckenhaus verzieht, schmeckt ein altes trockenes Brot übrigens so gut, dass man dem Bäcker die Füße küssen möchte.

An sonnigen Tagen, wenn man nach einer Wanderung unendlich verschwitzt ist und dann am Auto oder zu Hause angekommen endlich die Wanderschuhe ausziehen kann und Rauch in die Luft steigt, ist das ein wunderbares Gefühl. Und dann die Dusche… es bringt nichts darüber zu sprechen, man muss es erleben. Es ist etwas anderes, nach dem Sport im Fitnessstudio zu duschen. Nach einem längeren Aufenthalt in der Natur, auch wenn man es noch so sehr genossen hat, steht eine Dusche einfach für alle Annehmlichkeiten der Zivilisation und es muss wohl etwas wie Demut und Dankbarkeit sein, was dich in diesem Moment voll und ganz erfüllt.

Die innere Wanderung...

... ist für mich ein gedanklicher Prozess, genießt man anfangs vor allem die äußeren Eindrücke des Wanderns, kommt es bei jeder Wanderung irgendwann zum Blick ins Innere. Man denkt über sein Leben nach und trifft Entscheidungen, die man vorher nicht treffen konnte, kommt auf neue Lösungswege für Probleme, die einen vorher blockiert haben. Deshalb redet man wohl auch vom kreativen Spaziergang. Mir kommen bei sowas tatsächlich die besten Ideen. Bist du irgendwann am Ende deiner körperlichen, wie auch geistigen Kräfte, konzentrierst du dich voll und ganz auf das Hier und Jetzt. Du kannst gar nicht mehr anders. Keine Sorgen und Gedanken mehr, keine Ideen mehr. Aber auch kein Natur genießen und Bewerten mehr. Dazu fehlt einfach die Energie. Jetzt beginnt eine geradezu reinigende Phase, wie ich finde. Du bist nur noch auf das Laufen selbst konzentriert. Es hat etwas Meditatives und ist vielleicht das Beste und Wichtigste an jeder Wanderung. Einfach Laufen. Durchhalten. Schritt für Schritt. Mit jedem weiteren Schritt den du jetzt gehst obwohl du eigentlich nicht mehr kannst, verschiebst du eine Grenze in deinem Kopf. Du arbeitest jetzt an deiner Willenskraft, deiner Disziplin und deinem Selbstwertgefühl. Und wenn du dir im Hinterkopf behältst, was du alles durchgestanden hast, kannst du das auf alles andere in deinem Leben übertragen. Denn Disziplin, Willenskraft und ein positives Selbstwertgefühl werden dafür sorgen, dass du in allen Bereichen deines Lebens wächst.

Ein Wanderer läuft nicht weg. Er läuft nicht hin. Er läuft einfach. Und dabei wächst er.


PS: Schon einmal von Komorebi gehört? Komorebi ist das japanische Wort für Sonnenstrahlen, welche man im Wald, durch die Baumkronen auf den Boden brechen sieht, in denen kleine Partikel herumschwirren. Es sieht einfach immer wieder schön aus, die Japaner haben dem Phänomen einen Namen gegeben um ihre Liebe zur Natur auszudrücken.